Völkerrechtliche Überlegungen zur sogenannten Oder-Neiße-Linie und ihrer Problematik

von Dr. jur. Hannes Kuschkat

Der deutsch-polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990 läßt offen, durch welchen Rechtsakt die territoriale Souveränität („Eigentum") über die deutschen Ostgebiete auf die Republik Polen übergegangen sein soll.

Das als bloßer „Grenzbestätigungsvertrag" betitelte Vertragsdokument verweist seinerseits auf den „Görlitzer Vertrag" vom 6. Juli 1950 zwischen der DDR und der Republik Polen sowie den „Warschauer Vertrag" vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Aber auch diese beiden Verträge von 1950 und 1970 beinhalten ihrerseits keine Veränderung der territorialen Zugehörigkeit der deutschen Ostgebiete zum nach wie vor völkerrechtlich weiterbestehenden Deutschen Reich (ständige Rechtsprechung des BVerfG).

Der „Görlitzer Vertrag" und der „Warschauer Vertrag" verweisen nämlich ihrerseits wieder auf das „Potsdamer Protokoll" vom 2. August 1945 zwischen den Hauptsiegermächten. Das Potsdamer Protokoll seinerseits basiert auf der Berliner Deklaration der vier Hauptsiegermächte vom 5. Juni 1945, welche zwar die Übernahme der Obersten Regierungsgewalt in Deutschland verkündete, jedoch die Annektion Deutschlands durch die Siegermächte ausdrücklich verneinte. Die Basis dieser Erklärung vom 5. Juni 1945 war die Kapitulation der Deutschen Wehrmacht vom 8./9. Mai 1945, welche keinerlei territoriale Bestimmungen über eventuelle Gebietsabtretungen Deutschlands enthielt.

Mit Hilfe der völkerrechtlichen Unterscheidung zwischen „territorialer Souveränität" („Eigentum") und „Gebietshoheit" („Besitz"), welche der ständigen Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes entspricht, kann gesagt werden, daß Polen bis zum Abschluß des deutsch-polnischen Grenzvertrages vom 14. November 1990 keine territoriale Souveränität über die deutschen Ostgebiete erworben hatte. Im Potsdamer Protokoll vom 2. August 1945 waren ihm durch die drei Hauptsiegermächte diese Gebiete lediglich zur „Verwaltung" bis zum Abschluß eines Friedensvertrages übergeben worden.

Die Rechtmäßigkeit dieser Verwaltungszession ist außerordentlich fraglich, da sie unter Verletzung der Haager Landkriegsordnung und zu Lasten eines abwesenden Dritten, nämlich des Deutschen Reiches, geschah. Die seither stattgefundene tatsächliche Ausübung der Gebietshoheit durch Polen östlich von Oder und Neiße ändert an diesem völkerrechtlichen Befund nichts. Die genannten Verträge von Görlitz, 1950, und Warschau, 1970, haben an dieser Situation nichts ändern können, da die auf deutscher Seite vertragsschließenden Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, nicht verfügungsberechtigt über „Deutschland als Ganzes" und dessen Territorium waren. Im „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" vom 12. September 1990 („Zwei-plus-Vier-Vertrag") hat sich Deutschland verpflichtet, die zwischen ihm und Polen bestehende Grenze, welche auf die Verfügung der Siegermächte von 1945 zurückgeht, in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrage zu bestätigen. Diese Grenze war bis dahin eine „Verwaltungsgrenze", da die Ostgebiete an Polen nur zur Verwaltung übertragen wurden. Es ist nicht erkennbar, daß der deutsch-polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990 hieran irgendwie etwas geändert haben sollte. Die Erklärung der Vertragsparteien, daß die zwischen ihnen bestehende Grenze „jetzt und in Zukunft unverletzlich ist", ist wortwörtlich bereits im „Warschauer Vertrag" von 1970 enthalten und beinhaltet nach der Rechtsprechung des BVerfG keine Gebietsabtretung, sondern einen konkretisierten Gewaltverzicht. Dasselbe gilt für die Erklärung, daß die Vertragsparteien gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. Die deutsche Seite hat wegen der Rechtsprechung des BVerfG zu den früheren Ostverträgen eine ausdrückliche Gebietsabtretung vermieden. Dies geschah zum einen, um damit begründeten Entschädigungsansprüchen der Vertriebenen für verlorene Immobilien auszuweichen und zum anderen die deutsche Staatsangehörigkeit der derzeit noch im polnischen Machtbereich wohnenden Deutschen zu erhalten. Denn die Anerkennung der polnischen Annektion würde bei einem so großen Gebiet, wie es sich bei den deutschen Ostgebieten handelt, unvermeidlich auch zu einem Wechsel der Staatsangehörigkeit der dort verbliebenen deutschen Bevölkerung führen, das heißt zu einem Fortfall der deutschen Staatsangehörigkeit, welche sie neben der polnischen Staatsangehörigkeit immer noch besitzen.

Eine völkerrechtlich vertretbare Interpretationsmöglichkeit für die Rechtswirkungen des deutsch-polnischen Grenzvertrages vom 14. November 1990 könnte darin gesehen werden, daß seither die Gebietshoheit („Besitz") in den deutschen Ostgebieten von der Republik Polen rechtmäßig, nämlich mit Zustimmung des deutschen Inhabers der territorialen Souveränität („Eigentümer"), ausgeübt wird. Damit würde die Republik Polen sozusagen vom „Hausbesetzer" zum Mieter avancieren.

Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes ist dieser verbleibende Rechtsrahmen keine bloße Fiktion, da diese eingeschrumpfte territoriale Souveränität automatisch wieder zur vollen Entfaltung gelangt, wenn sich der Verwaltungszessionär von seinem Besitze zurückzieht. Auch dies ist keine bloße Rechtsfiktion, da in der Präambel des deutsch-polnischen Grenzvertrages vom 14. November 1990 auch auf die Schlußakte der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" vom 1. August 1975 Bezug genommen wird, in der es heißt, daß die Teilnehmerstaaten „der Auffassung sind, daß ihre Grenzen völkerrechtlich friedlich verändert werden können".