Quelle: Der Spiegel

Sed quis custodiet ipsos custodes ?

Der offizielle Echelon-Bericht an das EU-Parlament

Am 5. September 2001 stellte Gerhard Schmid, Berichterstatter des nicht ständigen EU-Untersuchungsausschusses zu Echelon, seinen Bericht im EU-Parlament zur Abstimmung. Seiner Rede, die wir hier ungekürzt wiedergeben, folgte die Abstimmung: Das Parlament segnete den Bericht mit einer satten Zwei-Drittel-Mehrheit ab. Mit dieser Rede wurde die Existenz von Echelon "amtlich".

"Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vor gut einem Jahr hat das Europäische Parlament einen Sonderausschuss eingesetzt, der aufklären sollte, ob es ein federführend vom amerikanischen Geheimdienst betriebenes System zum Abhören von Kommunikation gibt, das die folgenden Eigenschaften aufweist: Es arbeitet global, mit ihm kann jedes Telefongespräch, jedes Telefax, jede E-Mail in Europa abgehört werden. Es wird von einer Staatengruppe betrieben, zu der auch das Vereinigte Königreich, also ein Mitgliedstaat der EU gehört, und es dient am Ende des Kalten Krieges vor allem der Wirtschaftsspionage. Dieses System, so wurde behauptet, trägt den Code-Namen Echelon.

Dies, Herr Präsident, war ein schwieriger Aufklärungsauftrag, weil das Europäische Parlament weder - und zwar unter keinerlei Umständen - Zugang zu Akten von Geheimdiensten der EU-Mitgliedstaaten und schon gar keinen Zugang zu Detailinformationen über die Tätigkeit von amerikanischen Diensten hat. Trotzdem können wir nach einem Jahr sorgfältiger Aufklärungsarbeit dem Plenum ohne jeden Restzweifel folgendes mitteilen: Erstens, es gibt kein von Geheimdiensten gleich welchen Staates betriebenes Abwehrsystem, mit dem jedwede Kommunikation in Europa abgehört werden kann. Diese Behauptung muss in das Reich des kreativen Journalismus verwiesen werden! Die Behauptung wird auch nicht dadurch realitätsnäher, dass sie sich leider Gottes in einer Studie wiederfindet, die das Europäische Parlament in Auftrag gegeben hat und der damit eine Art Qualitätssiegel verliehen wurde.

Es geht an der Stelle nicht darum, was man glaubt. Die Telekommunikation gehorcht den Gesetzen der Physik, und wo es keinen Zugang zu Trägern der Kommunikation gibt, kann man auch nicht abhören, und es gibt keine magische Sonderphysik für Geheimdienste! Zweitens gibt es aber sehr wohl ein Abhörsystem, das folgende Eigenschaften hat: Es arbeitet global und wird mit einem Abhörverbund der sogenannten UK-USA-Staaten - das sind Amerika, das Vereinigte Königreich, Kanada, Australien und Neuseeland - realisiert. Dies ist keine zufällige Mixtur, dieser Abwehrverbund hat seine historischen Wurzeln im Zweiten Weltkrieg. Es hat im Wesentlichen nur Zugriff auf interkontinentale Kommunikation, die entweder über Kommunikationssatelliten vermittelt wird oder über Unterwasserkabel läuft, die in den obengenannten Ländern anlanden.

Die Kommunikation innerhalb Europas ist deshalb kaum davon betroffen, die Kommunikation zum Beispiel in die afrikanischen Staaten, in arabische Staaten und nach Lateinamerika sehr wohl. Was Botschaften an Funkverkehr in ihrem Nahbereich abhören können, wissen wir nicht, aber es ist klar, dass es dabei nicht um den Hauptanteil des Abwehrgeschäfts geht. Im Unterschied zur Abhöroperation der Polizei, die sich immer auf eine Person oder eine klar definierte Gruppe von Personen richtet, arbeitet das Abhörsystem, mit dem wir es zu tun haben, anders. Es fängt jede Kommunikation, zu der es Zugriff hat, ab und führt sie einer Computersuchmaschine zu. Diese filtert entsprechend einem Suchwortkatalog die Kommunikation aus, die für Nachrichtendienste interessant ist. Das System arbeitet also wie ein Staubsauger, und die Nachrichtendienste stellen den Filter ein. Technisch nennt man das strategische Fernmeldekontrolle.

Die Suchmaschine kann Telefonnummern, Stimmen von Topzielen, den Inhalt von E-Mails und von Maschinenschrifttelefaxen erfassen. Handschriftfaxe oder gesprochene Nachrichten können beim Stand der Technik in absehbarer Zeit nicht mit dieser Suchmaschine erfasst werden und sind damit einer geheimdienstlichen Auswertung auch nicht zugänglich. Ansonsten haben wir Hinweise, das das System den Code-Namen Echelon trägt. Es ist aber egal, wie es heißt. Es kann auch Rumpelstilzchen heißen, für uns ist wichtig, was es macht!

Das sind die Befunde, und ich füge hinzu, wir behaupten das nicht einfach. Wir können es beweisen mit einer Indizienkette, die so stark ist, dass sie vor einem Schwurgericht standhalten könnte. Wer Genaueres wissen will, kommt nicht darum herum, den Bericht zu lesen. Hier soll nur ein Hinweis genügen: Wenn wir etwas Falsches aufgeschrieben hätten, dann können Sie davon ausgehen, dass uns die Nachrichtendienste der angesprochenen Staaten öffentlich mit Genuss zerlegt hätten! Sie haben das aber nicht getan, und das spricht für sich.

Wie bewerten wir diese Befunde? Ein Maßstab der Bewertung muss sein: Was tun denn eigentlich unsere eigenen Dienste? Das ist nicht

der alleinige Maßstab, aber es ist auch einer, wenn man ehrlich debattieren will. Die meisten Nachrichtendienste der Mehrheit der EU-Staaten bedienen sich der strategischen Fernmeldekontrolle. Nur Belgien, Griechenland, Irland, Österreich, Portugal und Luxemburg verwenden diese Technik nicht.

Interaktive Grafik: Das Echelon-System

Zweitens: Der Zweck, zu dem das verwendet wird, spielt bei der Bewertung natürlich auch eine Rolle. Wenn es um den Kampf gegen die internationale organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Menschenhandel, Waffenhandel, Terrorismus, Proliferation, um das Einhalten von Embargos oder Fragen der nationalen Sicherheit geht, ist gegen den Zweck als solche nichts zu sagen. Wenn damit Unternehmen ausspioniert werden, um damit der eigenen Wirtschaft Vorteile zu verschaffen, dann muss das anders bewertet werden.

Drittens: Der Zweck heiligt aber nicht die Mittel. Es geht also nicht allein um den Zweck, denn jedes Abhören, jeder Einzelfall verletzt die Privatsphäre. Dabei geht es nicht um ein Mengenproblem. Menschenrechte sind Individualrechte, keine Frage der Statistik. Zulässig ist eine solche Verletzung der Privatsphäre nur unter bestimmten Voraussetzungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist in seiner Rechtsprechung glasklar, was das betrifft. Diese Voraussetzungen lauten kurzgefasst so: Ein Eingriff muss eine gesetzliche Grundlage haben, er darf nicht willkürlich sein. Es muss also eine Güterabwägung zwischen Verletzung der Privatsphäre und dem Zweck, um den es geht, stattfinden. Er muss vorhersehbar, d.h. die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, dass es so ein System gibt. Und das Abhören darf nur dann eingesetzt werden, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Es ist also eine ultima ratio.

Es gibt hier im Haus Kollegen, die sagen, wenn es um Strafverfolgung geht, wenn die Polizei dies auf Anordnung eines Richters tut, dann ist das in Ordnung. Bei Geheimdiensten sagen sie, das ist eine Verletzung von Menschenrechten. Ich habe großes Verständnis dafür, wenn jemand sagt, ich will es politisch nicht, dass Dienste dies tun. Das kann ich nachvollziehen. Das ist nicht meine Position, aber das kann ich nachvollziehen. Aber wenn jemand sagt, dies sei illegal, dann trägt er der Rechtsprechung des Gerichtshofes für Menschenrechte hier bei uns nicht Rechnung.

Wirtschaftsspionage ist sicher kein erlaubter Zweck. Nun befassen sich alle Nachrichtendienste auch mit wirtschaftlichen Sachverhalten, zum Beispiel mit Entwicklungen auf Finanz- oder auf Rohstoffmärkten. In diesem Sinne betreiben die meisten Dienste Wirtschaftsspionage. Das ist auch nicht der Punkt, der kritisiert wird. Das Problem entsteht dann, wenn nicht allgemeine Sachverhalte aufgeklärt werden, sondern wenn Details der Industrie des eigenen Landes zugespielt werden, damit sie einen Wettbewerbsvorteil bekommt.

Zwischen EU-Staaten wäre ein solches Verhalten im übrigen nicht vereinbar mit dem EU-Recht, weil es eine Art verbotener Staatsbeihilfe ist. Im internationalen Bereich ist es mehr als ein unfreundlicher Akt, und zwischen Verbündeten ist es ein Skandal! Im Übrigen, Abhören ist bei Wirtschaftsspionage nicht die Methode der Wahl, das macht man in der Regel mit den klassischen Mitteln. Aber es gibt Einzelfälle, in denen dieses Instrument mit Erfolg eingesetzt werden kann.

Nun waren vor allem die Vereinigten Staaten im Kreuzfeuer der Kritik. Die USA haben immer zurückgewiesen, dass sie nachrichtendienstliche Erkenntnisse direkt an US-Firmen weitergeben. Sie haben aber zugegeben, dass sie im Detail abhören, wenn es um international ausgeschriebene Großaufträge geht. Das Argument und die Rechtfertigung dabei ist, die europäischen Firmen würden ja bestechen und man müsste sich dagegen wehren.

Dieses Verhalten muss - ich sage das jetzt sehr höflich und vorsichtig - hinterfragt werden. Erstens wissen wir, dass amerikanische Firmen auch bestechen. Bei der Korruptionsanalyse, die weltweit vorliegt, liegen sie im Mittelfeld der Bestechungsaktivitäten.

Zweitens: Inzwischen ist so etwas innerhalb der OECD durch Konvention verboten, und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben dies in innerstaatliches Recht umgesetzt. Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika trotzdem mit Cowboymentalität auf einem Faustrecht bestehen, dann ist das mit der Idee, dass solche Dinge durch internationale Rechtsvereinbarungen geregelt werden, nicht vereinbar.

Drittens: Wenn es so ist, dass die amerikanischen Dienste keine Wirtschaftsspionage im Detail betreiben, warum gibt es dann kein Gesetz in den Vereinigten Staaten von Amerika, das es den Diensten verbietet? Warum nicht?

Das eigentliche politische Problem ist im Grunde, dass in der öffentlichen Debatte in Europa die Menschen den Vereinigten Staaten von Amerika so etwas zutrauen. Das politische Problem ist ein abgrundtiefes Misstrauen, das da offenkundig wird. Das muss aus der Welt!

Wir haben eine Menge von Vorschlägen entwickelt, auch was die Kontrolle der Dienste bei uns betrifft, auch was einen Kodex zwischen den EU-Staaten betrifft und ähnliches. Letztlich landen wir aber bei einem einfachen Hauptproblem. Der Schutz der Privatsphäre wird durch die Rechtsordnungen von Nationalstaaten gewährleistet. Die Kommunikation wird aber zunehmend international. Es gibt keinen Weltstaat, der sie schützt. Wir müssen internationale Rechtsvereinbarungen finden, damit wir - das ist eines der vielen Probleme der Globalisierung - auch da Schutz der Privatsphäre bekommen.

Ansonsten bleibt ein zweites Problem, das ich an den Anfang dieses Berichts gestellt habe. Das ist ein lateinischer Satz, der sagt: Sed quis custodiet ipsos custodes, d.h. wer bewacht denn die Wächter? Das bleibt das Dauerproblem!"