Wie Danzig erobert werden sollte

Polnische Fehlrechnung schon im Ersten Weltkrieg

Dr. Raimund Ulbrich

Der Historiker pflegt nicht nur harte Tatsachen zu durchleuchten. Ihn interessieren aus gutem Grunde auch die sicherlich nicht blassen Gedanken, welche lediglich in den Köpfen gewisser starker Individuen vorübergehend Realität hatten, auch wenn sie noch nicht in jenen Daseinsbereich durchgebrochen sind, wo »die Völker aufeinanderschlagen«. Findet man doch so Hinweise auf Möglichkeiten, die in einer bestimmten historischen Situation neben der wirklich vorhandenen Dynamik der Ereignisse in den sie lenkenden Kraftfeldern außerdem noch bestanden haben. Mancher Zusammenhang wird dabei dem Dunkel entrissen, manche schicksalhaft anmutende Entscheidung kann verständlicher werden.

Unter diesem Gesichtswinkel verdienen einige Abschnitte aus den Memoiren des polnischen Generals J6zef DowbÜr-Musnicki Interesse (»Moje Wspomnienia«, Warschau 1935).

 

 

Wer war J. Dowbór-Muśnicki?

Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges war das ganze Gebiet Polens als Folge der vor mehr als einem Jahrhundert erfolgten Teilungen den drei Kaiserreichen des damaligen Europa eingegliedert. Deshalb mußten Polen unter den Fahnen des Zaren gegen die Heere Wilhelms II. und Franz Josephs, die ebenfalls Polen in ihren Reihen hatten, zu Felde ziehen. Abgesehen davon kämpften Polen auch in den Streitkräften der westlichen Alliierten.

Trotz dieser für das polnische Volk fatalen Situation wurden andererseits Hoffnungen wach, daß aus der Katastrophe Europas ein geeintes unabhängiges Polen möglicherweise hervorgehen könnte. In jedem der miteinander verfeindeten Lager gab es polnische Patrioten, die ungeachtet der ein Jahrhundert dauernden Abwesenheit Polens von der Landkarte Europas mit dem Wahlspruch lebten: »Bereit sein ist alles.«

Im Österreichischen Teilgebiet gründete Josef Pilsudski, später Sieger über die Rote Armee bei Warschau und Diktator des wiedererstandenen Polens, eine polnische Legion[1], die er zunächst auf seiten der Mittelmächte gegen die Russen kämpfen ließ. Josef Haller[2], ursprünglich Österreichischer Offizier und dann Oberst bei den auf seiten der Mittelmächte kämpfenden polnischen Einheiten, wurde nach seiner Flucht nach Frankreich 1918 zum Chef der in den westlichen Armeen zusammengefaßten polnischen Formationen ernannt.

Der dritte Josef, nämlich Józef Dowbór-Muśnicki, organisierte nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches die Polen, die in die russische Armee geraten waren, um sie als einen geordneten Heeresverband in die Heimat zurückzuführen.

Józef Dowbór-Muśnicki, der in der Armee des Zaren die reguläre Laufbahn vom Kadetten über alle Examina der Militärakademie bis zum General durchlaufen, schon am Kriege mit Japan als höherer Offizier teilgenommen und im Ersten Weltkriege die Kämpfe um Lodz und Warschau in führender Funktion auf russischer Seite mitgemacht hatte - worüber er mit einiger Selbstgefälligkeit in seinen Memoiren berichtet -, spricht über Pilsudski gelegentlich aus der bewußten Distanz eines Fachmannes zu einem Amateur-Strategen. Zahlreiche Nebenbemerkungen sind symptomatisch für seine Abneigung gegen Pilsudski, in dem er wegen dessen politischer Vergangenheit einen Sozialisten wittert.

Das XXV. Kapitel des Erinnerungsbuches von J. D. M. trägt die Überschrift »Danzig-Lemberg« und führt uns an den Gegenstand, welcher aus dem in mehrfacher Hinsicht auch heute noch interessanten Buche[3] hervorgehoben sei. Was wir erfahren, wirft Licht auf die Labilität der Stellung, in welche die deutsche Stadt Danzig kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges geraten war, eine Labilität, die zu einem der auslösenden Momente des Zweiten Weltkrieges werden sollte[4].

Vollendete Tatsachen schaffen

Dowbór-Muśnicki beschreibt also aus seiner Sicht die ersten Wochen und Monate der Entwicklung des wiedererstehenden polnischen Staates, streift auch seine durch das damalige polnische Außenministerium veranlaßte Mitarbeit an einer Denkschrift zu den beanspruchten Grenzen und berichtet über die Bemühungen polnischer Kreise, so auch des berühmten Pianisten Paderewski,[5] in Paris um die politische Zusammenfassung eines möglichst weit nach Osten und Westen reichenden Gebietes (Reminiszenzen an den großen polnisch-litauischen Staat früherer Jahrhunderte werden wach). Inzwischen ist er Kommandeur des Militärbezirks Posen geworden.

»Die aus Paris eintreffenden Nachrichten besagten« mit diesen Worten beginnt das uns hier interessierende XXV. Kapitel -, »daß man sich damit schwer tut, uns die Weichselmündung zuzugestehen. Wie wäre es aber, wenn man ›nachhelfen‹ würde und durch die Besetzung Danzigs eine vollendete Tatsache schüfe?«

J. D.-M. glaubte, daß in jenen Monaten für eine solche Unternehmung eine einzige Division ausgereicht hätte. - »Es entsteht die Frage, ob in den damals bestehenden Verhältnissen die Besetzung Danzigs und seine Angliederung an Polen hätte gelingen können.

Schon im Jahre 1917 waren die Mächte des Kriegführens müde… Wenn wir also vor dem endgültigen Abschluß des Versailler Vertrages Danzig besetzt hätten, so wäre eine nur geringe Wahrscheinlichkeit dafür bestehengeblieben, daß irgend jemand noch Lust haben würde, uns von dort zu vertreiben … Vielleicht hätte es einige Verstimmungen gegeben, aber wir brauchten uns na nicht darum zu kümmern.

Das Problem Danzig verlangte Mut zur politischen Entscheidung… Vom militärischen Standpunkt aus gesehen, wäre die Besetzung Danzigs eine einfache Sache gewesen… Die Deutschen hatten ja an der polnischen Front kein Heer, und die aus Rußland zurückflutenden Verbände waren demoralisiert.«

Danzig oder Lemberg?

Nun beschreibt J. D.-M., wie er sich die Ausführung seines Planes und die Aufstellung der erforderlichen Division gedacht hat.

»Ende Januar 1919 begann ich mit der Bearbeitung des Planes zur Besetzung Danzigs. Ich arbeitete daran persönlich, denn ich glaube nicht an die Fähigkeit meiner Landsleute, Geheimnisse zu bewahren… eine erfolgreiche Verwirklichung des Planes erforderte strengste Geheimhaltung.«

Weitere Verbindungsstellen sollten erst Ende März von dem Plan etwas erfahren. - »Leider scheiterte seine Verwirklichung wegen der Ereignisse bei Lemberg und infolge jenes bei uns so verbreiteten Charakterfehlers, welcher das Gefühl über den gesunden Menschenverstand und die rigorose politische Notwendigkeit dominieren läßt. Schon Ende 1918 war es bekannt, daß die Dinge um Lemberg schlecht standen. Man kämpfte und verhandelte gleichzeitig. Eine solche Taktik ist überhaupt die schlechteste… Wenn wir Lemberg auch vorübergehend verlieren sollten, so wäre es ein leichtes gewesen, es später wiederzugewinnen.«

Hier sei daran erinnert, daß die Polen am 23. Nov. 1918 Lemberg im Kampfe gegen die Ukrainer erobert hatten und es dann verbissen verteidigten. Ja, die polnische Armee drang im Mai 1920 sogar bis Kiew vor, von wo sie dann durch eine russische Gegenoffensive bis vor die Tore Warschaus zurückgetrieben wurde.

»In Warschau wurde zugunsten einer Hilfsorganisation für Lemberg starke Propaganda gemacht.« Die daraus resultierenden Maßnahmen waren jedoch unzureichend. Nun wurde auch auf J. D.-M. Druck ausgeübt: er solle die ihm unterstellten Regimenter zum Entsatz der durch die Ukrainer bedrängten Stadt Lemberg zur Verfügung stellen. J. D.-M. lehnte zunächst ab, mußte aber am Ende nachgeben. »Ich erwog es, ein Regiment nach Lemberg abzukommandieren, jedenfalls aber keines von denen, welche ich für die Eroberung Danzigs bereitgestellt hatte.«

Angesichts der von Paderewski geäußerten Überzeugung, daß die westlichen Alliierten die Stadt Danzig mit Sicherheit Polen zusprechen würden, entschloß sich J. D.-M., Lemberg zu helfen, ohne seine auf Danzig abzielenden Pläne preiszugeben. »Ich glaubte zwar nicht den Versprechungen, was Danzig betraf, denn die freiwillige Rückgabe dieser Stadt an Polen würde nicht nur die Wiedergeburt Polens bedeuten, sondern die Wiederentstehung eines machtvollen Polens, und das wäre eine tödliche Gefahr für Deutschland… Ich habe mich also entschlossen, die Dinge nicht halbherzig und stümperhaft zu führen, sondern Paderewski mit aller Kraft zu helfen und meinen Danzig-Plan in Hinblick auf die Erklärung Paderewskis entgegen besserer Überzeugung aufzugeben.« - Infanterie-Verbände, starke Artillerie und drei Flieger-Staffeln wurden schließlich nach Lemberg befohlen. Dank den von J. D.-M. abgestellten militärischen Kräften wurde die Stadt endgültig gerettet: »Lemberg war frei, aber auf Kosten von Danzig.«

Einige Wochen später war das deutsche Danzig noch einmal durch eine polnische Armee akut bedroht, und zwar im Zusammenhänge mit der geplanten Landung der Haller-Armee. Der deutschen Diplomatie gelang es jedoch, die Gefahr abzuwenden. - Etwa ein Vierteljahrhundert danach bekam Polen Danzig - aber auf Kosten von Lemberg und zu Lasten seiner eigenen Existenz als de facto souveräner Staat.